Predigt an Lätare

+ Joh 3,14-21
Lätare, 14. März 2021
Der Predigt für die alt-katholische Gemeinde St. Martin in Dortmund liegt das Evangelium des Sonntags nach dem Lesejahr B zugrunde.

„Wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der glaubt, in ihm ewiges Leben hat. Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird. Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet; wer nicht glaubt, ist schon gerichtet, weil er nicht an den Namen des einzigen Sohnes Gottes geglaubt hat. Denn darin besteht das Gericht: Das Licht kam in die Welt, doch die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht; denn ihre Taten waren böse. Jeder, der Böses tut, hasst das Licht und kommt nicht zum Licht, damit seine Taten nicht aufgedeckt werden. Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit offenbar wird, dass seine Taten in Gott vollbracht sind.“ (Einheitsübersetzung 2016)

Eben noch hat es geknallt. Aber so richtig. Im Tempel ist jede Menge los: Flügelschlagen der Tauben, Gemecker der Ziegen, Brüllen der Rinder, Gezeter der Händler, Wutschreie der Geldwechsler, deren Tische Jesus umwirft – ein ohrenbetäubender Lärm am helllichten Tag, kurz vor dem Abendgottesdienst. Der Jerusalemer Tempel wird zum Ort einer lauten, aufgeregten Szene. In aller Öffentlichkeit kommt es zum Konflikt mit den Händlern, Jesus lässt nicht mit sich reden. Er macht klar: So geht es nicht weiter, Kommerz statt Kommunio, Geschäft statt Gemeinschaft – das zerstört den Glauben und die Gottesbeziehung.

Jetzt, kurze Zeit später, geht es ganz anders zu, stiller, nachdenklicher. Eine Nachtszene ist es, die den Aufgeregtheiten des Tages folgt und andere Töne zum Klingen bringt als das Geschrei im Tempelvorhof. Eine Nachtszene, fast wie auf einer Bühne[1]: Ein großer, leerer Raum, eine einzelne Öllampe flackert auf einem Tisch, an dem ein Mann sitzt und liest. Schatten tanzen an der Wand, als ein anderer durch die Tür hereinkommt, „… einer von den Pharisäern namens Nikodemus, ein führender Mann unter den Juden … [der] suchte Jesus bei Nacht auf und sagte zu ihm: Rabbi, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott mit ihm ist.“

Nikodemus und Jesus – ein nachdenkliches, leises Gespräch entspinnt sich im Schutz der Dunkelheit, verborgen vor den Augen der Welt, ein Gespräch auch in dem alten Wissen, dass die Nacht eine Zeit der besonderen Gotteserfahrung ist. „Rabbi, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen …“ Aber weiß Nikodemus wirklich? Will er nicht vielmehr wissen, wer Jesus wirklich ist? So fragt er und hört – von neuer Geburt aus Wasser und Geist, vom Wind, der weht, wo er will. Und fragt weiter: „Wie kann ein Mensch [von Neuem] geboren werden, wenn er alt ist?“ – „Wie mag das zugehen?“ Ist Veränderung möglich, kann Leben gelingen? Dieses nächtliche Gespräch zwischen zwei Glaubenslehrern in Israel geht in die Tiefe, es geht um Wahrheit. Und Wahrhaftigkeit. Um Gott und das Leben.

Um das Leben ging es auch in der Zeit der Wüstenwanderung, als Israel aus Ägypten auszog und in der endlosen Öde nicht genug zu essen fand. In der Gefahr, zu verdursten, angeekelt von immer demselben Manna (Num 21,4ff) – da bricht das Murren aus, Widerspruch gegen die doch so nötigen Einschränkungen, kein Vertrauen mehr in den eingeschlagenen, den von Gott gewiesenen Weg. Und Gott – was für ein archaisch-fremder, ja auch abstoßender Gedanke: „Da sandte der HERR feurige Schlangen unter das Volk; die bissen das Volk, dass viele aus Israel starben.“ So haben sie versucht, sich die Katastrophe zu erklären, das, was geschah, zu begreifen. Aber sie waren gefangen in den Kategorien von Schuld und Strafe, Gericht und Urteil. Ein strafender Gott, heute wie damals in den Köpfen Vieler.

Um das Leben ging es, und – Gott sei Dank! – nicht nur um das genommene, viel mehr noch um das geschenkte. Denn die Hilfe, Heilung kommt auch, kommt unbedingt von Ihm, dessen Name gepriesen sei. Das hat Israel festgehalten: Dass die Gnade bei dem Herrn ist und viel Erlösung bei ihm (Ps 130,7). Mehr als alles andere. Auf Gottes Befehl „machte Mose eine eherne Schlange und richtete sie hoch auf. Und wenn jemanden eine Schlange biss, so sah er die eherne Schlange an und blieb leben.“

Um eine alte Geschichte dreht sich das nächtliche Gespräch in dem fast leeren Raum mit den flackernden Schatten an der Wand. Nikodemus und Jesus – zwei Lehrer in Israel, kundig der Schrift, fragend, um zu verstehen. Denn je länger es währt, desto mehr wird aus dem Fragenden ein Hörender. Ein Hörender auf die Worte des anderen, der ihn mit hineinnimmt in das alte und doch immer gegenwärtige Geschehen um Leben und Tod. „Wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der glaubt, in ihm ewiges Leben hat.“

Flackernde Schatten an der Wand, Bilder, Zeichen – vor den Augen, vor der Seele. Nikodemus sieht: Schlange und Kreuz im flackernden Licht, hoch aufgerichtet zwischen den Schatten, nebeneinander, übereinander – sie verschmelzen, überdecken sich gegenseitig. Zeichen des Unheils, Symbole für Angst und Tod. Für das, was Leben unmöglich macht, vergiftet, erstickt. Und doch auch Wegmarken, an denen sich scheidet, wohin es geht –zum Tod oder ins Leben?

Wohin geht der Weg? Welche Richtung stimmt? Nicht Urteil und Strafe helfen zum Leben, sondern der Blick, der suchende Blick: „Woher kommt mir Hilfe?“ (Ps 121,1) Nikodemus, fragend im Dunkel der Nacht: „Rabbi, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen …“. Er weiß, ahnt ganz tief, dass hier die Antwort wartet, dass ihm Schlange und Kreuz die Richtung weisen. Aus dem Tod ins Leben. Der ihm gegenübersitzt, der spricht es aus: „Wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der glaubt, in ihm ewiges Leben hat.“

„Jeder, der glaubt.“ – Ihr Lieben, bisher haben wir wie in einem Zuschauerraum gesessen und auf die Bühne geschaut, auf der die nächtliche Szene stattfindet, das Gespräch zwischen Nikodemus und Jesus. Nun sind wir unversehens selbst hineingezogen in diese Szene. Jesus wendet sich um und spricht wie ins Publikum, zieht uns hinein ins Geschehen. Wir heute werden angesprochen: „Jeder, der glaubt.“ Das Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus öffnet sich, es geht plötzlich auch um unsere Nachtgedanken, unsere Angst, unsere Wahrheit, unser Leben: „Woher kommt mir Hilfe?“ Wie gelingt mein Leben?

Was dazu zu sagen ist, hören wir – mit Nikodemus – aus den Worten Jesu: „… Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird. … [Und] darin besteht das Gericht: Das Licht kam in die Welt … Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit offenbar wird, dass seine Taten in Gott vollbracht sind.“

Gericht, Schuld, Strafe – Angstworte, oft und oft gehört, inhaliert mit Bußgebet und Beichtspiegel: „Ich armer, elender, sündiger Mensch …“. Gericht und Urteil fallen so ineinander, halten klein, drücken nieder. Aber so ist Gott nicht. Gott verurteilt nicht, Gott liebt die Welt, er liebt sie ins Leben durch Wort und Atem. Sein Gericht kommt nicht von Urteil, sondern von Richtung, bringt nicht den Tod, sondern zielt auf das Leben. So wie der Blick auf die eherne Schlange heilt, so zeigt der Blick auf Christus, wie Leben sein kann, sein soll – ausgerichtet auf Gott und aufrichtig in der Liebe zur Nächsten.

Langsam dringt Licht in die nächtliche Szene, Schöpfungslicht, Osterlicht. Nikodemus geht wieder hinaus in sein Leben, verändert vielleicht durch Fragen: „Rabbi, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen …“ – und Hören „Das Licht kam in die Welt … [und wer] die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit offenbar wird, dass seine Taten in Gott vollbracht sind.“ Nikodemus wird Jesus noch zwei Mal begegnen: Bei einem Streitgespräch stellt er sich an die Seite Jesu, um ihm Gehör zu verschaffen – ein Werk der Gerechtigkeit. Und nach Jesu Tod bringt Nikodemus Myrrhe und Aloe für das Begräbnis – ein Werk

der Barmherzigkeit. Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, Wahrheit und Liebe. Die Begegnung mit Jesus, das Gespräch in der Mitte der Nacht über die Wahrheit und das Leben, Gott und die Menschen haben ihn verändert. Er weiß um die Richtung, in die er gehen wird: dem Leben entgegen.

 

 

Sabine Zorn, Pfarrerin i.R.
Geistliche Leiterin des Berneuchener Dienstes

[1] Das Bild des nächtlichen Gespräches als Bühnengeschehen verdanke ich Holger Pyka, Göttinger Predigtmeditationen 1/2019, 183ff.

 

 

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